Meine Eltern brachten mir bei, zuzuhören. “Jeder Mensch hat eine eigene Geschichte,” sagten sie. “Wenn du einem Menschen die Möglichkeit gibst, seine Geschichte zu erzählen, kannst du viel lernen.“ Sie wollten den Menschen aus weniger privilegierten Gesellschaftsschichten eine Stimme geben. Deshalb luden sie immer wieder Menschen zum Essen ein, die von Situationen erzählten, die ich nicht kannte. So hörte ich Geschichten über Armut, Rassismus, Gewalt und Unterdrückung. Es sind diese Geschichten, die mein Weltbild geprägt haben. Ich lernte, dass Leiden oft einem bestimmten Muster folgt, dass gesellschaftliche Kräfte einen Menschen in eine Richtung drängen können, die sie sich nie ausgesucht hatten.
Die Geschichte der Armen in Südasien weisen die gleichen Muster auf – gesellschaftliche Kräfte können die Aussichten eines Menschen prägen. Gefestigte gesellschaftliche Strukturen, wie etwa das Kastensystem und überlieferte Rituale, wie das Jogini-System, können eine Familie in Armut gefangen halten oder ein junges Mädchen dazu zwingen, als Besitz der Dorfgemeinschaft für sexuelle Ausbeutung zur Verfügung zu stehen. Das sind hässliche Wahrheiten, erdrückend und komplex. Wie kann man die Kräfte einer Gesellschaft neu ordnen und Menschen bestärken, anstatt sie zu unterdrücken?
Während meines Praktikums mit Dignity Freedom Network lerne ich etwas davon, wie die Antwort auf diese Frage aussehen kann. Im Ansatz muss das fundamentale Problem anerkannt werden: die Missachtung des Wertes jeder einzelnen Person und die Rückkehr zu einem ganzheitlichen Ansatz, der die gesamten Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen anspricht. Ich lerne auch, dass es dafür ein Team braucht. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich Teil einer internationalen Gruppe. die sich dafür einsetzt, dass Veränderung im Leben Einzelner stattfindet. Jeder der daran mitarbeitet hilft mit, dass die Aufgabe bewältigt werden kann. Die Geschichten, die ich von DFN höre, erzählen davon auf beeindruckende Weise: Ein junges Mädchen kann aus Sklaverei befreit werden und ihre eigene Zukunft gestalten und so Würde und Resilienz in schlimmsten Umständen ausstrahlen. Eine Mutter kann es lernen mit einfachen Mitteln und Wissen ihre Familie zu ernähren und dabei bezeugen, dass es möglich ist, etwas gegen Armut zu unternehmen. Kinder, die nur ganz begrenzte Möglichkeiten haben, können durch Schulbildung ihren Träumen eine Richtung geben und Hoffnung für die Zukunft haben, nicht nur für die eigene, sondern auch für die der nächsten Generation.
Ich habe es gelernt, den Geschichten anderer Menschen zuzuhören. Nun lerne ich, dass ich dazu beitragen kann, das Narrativ ihrer Zukunft zu ändern, damit sie ihre eigene Geschichte erzählen können.
(Credit DFN USA)